Die Edelkastanie ist eine der ältesten Kulturpflanzen Europas
Eine Pflanze wird zur Kulturpflanze, wenn sie durch menschliche Eingriffe zielgerichtet als Nutz- oder Zierpflanze angebaut, kultiviert und züchterisch bearbeitet wird.
Die ursprünglichen Verbreitungsgebiete der Edelkastanie waren die Kaukasusländer und das nördliche Kleinasien. Von hier aus hat sich die Edelkastanie in römischer Zeit über Griechenland und die Balkanländer in ganz Italien und Spanien ausgebreitet.
Die Römer brachten vor ca. 2000 Jahren – vermutlich zusammen mit dem Weinbau – die Kastanienkultur bis an den Südfuss der Alpen. Ein Klimaoptimum im frühen Mittelalter ermöglichte eine Ausbreitung des römischen Kastanienbaus in den Föhntälern der Alpennordseite.
In der Schweiz ist die Kastanienkultur vor allem in den südlichen Alpentälern verbreitet, dann aber auch in der Innerschweiz am Vierwaldstättersee, am Zuger- und Walensee sowie im Rheintal, im Wallis, am Genfersee und am Fuss des südlichen Juras (bei einer oberen Baumgrenze zwischen 800 und 1200 m. ü. M.).
Bevor die Kartoffel von Südamerika nach Europa kam, war insbesondere in den südlichen Teilen der Schweiz die Kastanie ein wichtiger Bestandteil der Selbstversorgung. Bei einem Totalbedarf von ca. 150 kg pro Person und Jahr waren Kastanien an vielen Tagen der Hauptbestandteil der Mahlzeiten.
Santa Maria del Castello, Mesocco: Monatsbild Oktober; um 1560
In einer Kastanienselve bei Castasegna im Bergell; datiert 1907
Kastanienselven von Collinasca im Val Cevio; um 1901
Die Bedeutung der Kastanie in der Selbstversorgungswirtschaft nahm im 19. Jahrhundert bereits ab. Der Kartoffelanbau erhielt einen grösseren Stellenwert. Dazu kam, dass Reis, Mais und auch Getreide – zum Teil durch Überseeimporte – billiger wurden. Die Technisierung der Landwirtschaft und die verbesserten Transportmöglichkeiten sowie die sozioökonomischen Veränderungen – bedingt durch neue Wirtschaftszweige – brachten den Niedergang der Kastanienkulturen in der Schweiz, der durch den eingeschleppten Kastanienrindenkrebs noch beschleunigt wurde.
Bereits um 1920 war das Bundesamt für Landwirtschaft besorgt um die Erhaltung der Kastanienkulturen, die landesweit immer mehr aus dem Landschaftsbild verschwanden. Die Fläche der Kastanienselven ging seit Beginn des 20. Jahrhunderts von 9000 ha bis im Jahr 1990 auf 1400 ha zurück. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Kastanie als Grundnahrungsmittel kaum mehr Bedeutung.
Kastanienkultur in Mörel-Filet mit langer Tradition
In Filet bei Mörel ist die Ortsbezeichnung «Chesteholz» bekannt. Diese wurde bereits 1279 in einer Urkunde erwähnt. «Chesteholz» steht für Kastanienwald.
An diese Tradition schloss vermutlich die Burgerversammlung von Mörel am 2. Mai 1870 an. Laut Protokolleintrag beschloss die Versammlung damals, «in Erwägung, dass die Burgerkorporation von Mörell grosse Strecken unbearbeiteter Liegenschaften besitzen, aus denen der wirkliche Ertrag sehr gering ist, und aus denen ein grosser Nutzen könnte gezogen werden», dass die Bilder[ne]halten womöglich in Weinberge und das Salzgeb zu einem Kastanienwald umwandelt werden». Für die Pflanzung kaufte die Burgerschaft für 206 Franken 103 Kastaniensetzlinge und bezahlte dem Eugen de Sepibus 40.50 Franken für die Taglöhne, «um die Arbeit für Säher der Kastanienbäume» zu be[zahlen] und Mist zu tragen.
Das «Waldreservat Kastanienselve Salzgäb» links oberhalb von Mörel-Filet
Die Kastanienselve Salzgäb oberhalb Mörel um 1920
Die Kastanienselve Salzgäb eingebettet zwischen den Dörfer Ried-Mörel und Mörel-Filet
Die Anstrengungen der Burgerschaft Mörel, die landwirtschaftliche Produktion in der Gemeinde zu steigern, stehen vermutlich in einem Zusammenhang mit der damaligen Walliser Politik, die Agrarwirtschaft des Kantons zu verbessern (Rhonekorrektion, Rationalisierung der Alpwirtschaft, marktorientierter Wein-, Obst- und Gemüsebau etc.). Dies vor dem Hintergrund eines rapiden Bevölkerungsanstiegs und einer grossen Emigrationswelle. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein weiterer Passus im erwähnten Protokolleintrag. 1870 fand in Sitten eine landwirtschaftliche Ausstellung statt. Die Burgerversammlung war der Ansicht, dass es im Interesse der Landwirtschaft und der Jugend liege, «wenn die landwirtschaftliche Ausstellung in Sitten von der Bevölkerung zahlreich besucht werde» und beschloss, «dass jeder Burgerhaushalt von Mörel, aus der Burgerkasse einen vom Rath zu bestimmenden Betrag bezahlt werde, die wenigstens eine Person aus ihrem Hause zur Ausstellung schickt».
Zur Entwicklung der Kastanienselve im «Salzgäb» fehlen weitere schriftliche Quellen. Gemäss mündlicher Überlieferung spielte aber die Kastanienkultur über Jahrzehnte in der Landwirtschaft von Mörel eine nicht unwesentliche Rolle.
Erst in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg wurde sie aufgegeben. Die Selve im «Salzgäb» verwilderte und damit ging ein prägendes Landschaftselement verloren. Heute gibt es auf dem Territorium der Gemeinde noch an die 170 Kastanien, meist als Einzelbäume mit zum Teil bemerkenswertem Alter, die von der einstigen Kastanienkultur in Mörel zeugen.